Samstag, 23. Juni 2007

160 Kilometer just for fun - Berliner Mauerwalk Mai 2007

Ende Juli 2006

Bis vor wenigen Tagen war ich zusammen mit Martin in Nijmegen, um den dortigen Viertagesmarsch zu absolvieren, der jedoch nach dem ersten Tag abgebrochen wird. Ich reise für ein paar Tage kurzentschlossen in meine Lieblingsstadt, um dort ein paar Tage zu entspannen. In Lübars schlendere ich bei strahlendem Sonnenschein durch die Felder, als mir an einem Radweg das unscheinbare Schild „Berliner Mauerweg“ auffällt. Der Weg sieht einladend aus und der Blick auf den Fernsehturm, der erreichbar nah, aber doch weit genug weg erscheint, macht Lust auf einen kleinen Walk… Der Fernsehturm wird stetig größer und ich bemerke immer mehr Mauerweg-Schilder. Sollte es gar möglich sein, die komplette ehemalige Mauer abzuwandern. Wie weit mag das sein? Je mehr ich mich dem Fernsehturm nähere, desto mehr begeistert mich der Gedanke…

November 2006

Ich habe mich selbst überredet, den Mauerweg in Etappen abzuwandern. Dies hat nicht sehr lange gedauert. Ich beschließe, Mitstreiter zu suchen und stelle meine Idee bei LA und Mitwalken.de vor. Zu meiner großen Freude finden sich schnell potentielle Mitwalker. Harriersand verlinkt eine kleine Fotoserie von einem anderen Mauerweg-Lauf und sorgt dafür, dass ich binnen weniger Tage im Zug Richtung Berlin sitze, um mir den Weg schon mal testweise live anzuschauen. Getreu meinem Motto „Schnell angehen und dann langsam eingehen“ wandere ich den Weg in der Dosierung 67-40-34-20 ab. Aufgrund meines überragenden Talents für Timing gelingt es mir dabei, die optisch reizvollste Siedlung (Invalidensiedlung) im Stockdunklen zu durchqueren. Gut gemacht, Georg!

März/April 2007

Der Beginn der Walking-Saison ist völlig missraten. Ich schleppe mich trotz des hervorragenden Wetters von Erkältung zu Erkältung. Den 6-Stunden-Lauf in Rotenburg breche ich ab; der Halbmarathon in Berlin funktioniert nur mit angezogener Handbremse. Ich bin deprimiert und meine Vorfreude auf den Mauerwalk sinkt rapide.

02.05.2007

Nach 4 Stunden Fahrt trifft mein ICE in Berlin ein. Es ist strahlender Sonnenschein. Ich sehe das sich spiegelnde Licht in der Kuppel des Reichstags, das Brandenburger Tor, den Fernsehturm. Hier werden wir starten und hoffentlich nach 4 Tagen wieder wohlbehalten ankommen. Wir, das sind Eddi, Martin und ich. Eine angenehme Nervosität stellt sich ein und verdrängt allmählich die trüben Gedanken der letzten Wochen. Ich checke im Hotel ein und besuche Martin und Helga in der Regenbogenfabrik. Wenig später gesellt sich Eddi zu der kleinen Runde. Beim Inder füllen wir die Kraftreserven für die nächsten Tage auf. Eddi erzählt, welche Umfänge ihr bisheriges Walking-Training so hatte. Für einen kurzen Moment huscht mir der Gedanke durch den Kopf, dass ihre Teilnahme am Mauerwalk doch sehr ambitioniert ist.

03.05.2007
Punkt 9 Uhr treffen wir uns am Brandenburger Tor. Im Hinterkopf haben wir immer noch die vage Hoffnung, dass sich noch der Eine oder Andere zu uns gesellen wird. Dieser Gedanke verblasst jedoch mit der Zeit. Helga möchte offenbar möglichst entspannte Walker-Gesichter auf die Speicherkarte der Kamera bannen – und welcher Zeitpunkt eignet sich hierzu besser als der Beginn der ersten Etappe.


Wir beginnen den Walk in entspanntem Tempo und gehen Richtung Potsdamer Platz. Obwohl Neubauten die Straße säumen, ist hier an jeder Ecke die Geschichte der Teilung Berlins gegenwärtig. Die Mauerreste, der Checkpoint Charlie und vor allem der auf dem Boden mit zwei Pflasterreihen markierte Verlauf der Mauer rufen in Erinnerung, wie es hier bis 1989 ausgesehen hat. Vorbei an der East Side Gallery, an der das größte relativ unversehrte Stück Mauer erhalten ist, erreichen wir Kreuzberg. Die ersten 6 Kilometer haben wir nun absolviert – das schreit nach einem üppigen zweiten Frühstück. Wir setzen uns in den Schatten und genießen den jungen Tag. Ich erschrecke mich für einen kurzen Moment darüber, wie groß doch ein Bagel sein kann. Dann besinne ich mich aber darauf, wie weit wir heute noch wandern werden und habe somit nicht mehr den Hauch eines schlechten Gewissens, mich so hemmungslos vollzustopfen.


Nach einer guten halben Stunde brechen wir voll neuer Energie wieder auf. Helga verabschiedet sich von uns und wird fortan einen relaxten Tag erleben. Wir wandern weiter Richtung Britz und kommen auf den langen geraden Straßen langsam auf Betriebstemperatur… Die Strecke ist nicht sonderlich attraktiv, da es an der Hauptstraße und ab Britz auch ein ganzes Stück an der neuen Autobahn entlanggeht. Mangels anderer optischer Reize an der Strecke können wir in aller Ruhe beobachten, wie auf der anderen Seite des Kanals ein Kraftwerk abgerissen wird – einfach idyllisch… Eddi beschließt offenbar, dass das die ideale Strecke sei, um mal ein bisschen Tempo zu machen. Martins und meinen Einwand, ob wir nicht ein bisschen gemütlicher gehen sollten, kontert sie mit den Worten „Wenn das zu schnell für Euch ist, kann ich auch gerne ein wenig langsamer walken.“ Spätestens jetzt wird mir klar, dass wir viel Spaß haben werden.


An der Stelle, an der die Autobahn noch nicht fertig ist, werden wir auf eine andere Hauptstraße umgeleitet. So fällt die Suche nach einem Lidl oder Aldi zur Auffüllung unserer Getränkevorräte nicht schwer. Martin und ich präsentieren eine Folge aus der Serie „Essen wie unsere Vorfahren“ und verschlingen in Rekordzeit jeweils ein fettiges Bratwürstchen mit Senf…


Nachdem wir den Flughafen Schönefeld passiert haben, verlassen wir endlich die Hauptstraßen und lernen fortan einen kleinen Teil der Hundepopulation Berlins kennen. Der Mauerweg hat Fahrradwegbreite und verdeutlicht an dieser Stelle besonders eklatant den Übergang von Land zu Großstadt. Links sehen wir Pferdeweiden, rechts Hochhaussiedlungen. Wir wandern weiter und merken uns für später schon mal das „Mauerblümchen – Treff für die reifere Jugend“ vor. Um sicherzustellen, dass wir Eddi nicht um die Erfahrung ihres ersten Marathons bringen, schlägt Martin noch einen kleinen Umweg über einen Hügel namens „Dorfblick“ vor. Oben angekommen haben wir einen herrlichen Panoramablick auf die Stadt mit dem weit entfernt liegenden Fernsehturm sowie auf ein mehrköpfiges Filmteam, dessen geschäftiges Tun uns bis zur Abreise rätselhaft bleibt. Man erkennt rege umherlaufende Leute, einen Kameramann, aber keine Schauspieler. Der erste Eindruck, dass am Hügelrand ein Gebüsch gewackelt hätte, entpuppt sich als Fata Morgana. Beim Abstieg versuchen wir, den Weg ein wenig abzukürzen und landen vor einem Zaun mit Warnschildern vor irgendeiner selbst mir als Hypochonder nicht bekannten Krankheit. So umrunden wir erneut den Hügel und beschließen unsere Etappe nach 43,1 Kilometern in Lichtenrade. Da nach einer solchen Strecke eine Fußmassage richtig gut tut, wandern wir die letzten Meter Richtung Bahnhof auf Kopfsteinpflaster – einfach herrlich. Martin und ich gratulieren Eddi zu ihrem ersten Marathon. Die Etappe endet mit einem vielbeachteten gemeinschaftlichen Stretching-Programm in der S-Bahn.


04.05.2007

Relativ frisch und voller Tatendrang treffen wir uns am Bahnhof Lichtenrade. Wir kaufen Verpflegung für unterwegs und gönnen uns noch einen letzten Kaffee. Es geht weiter auf dem fahrradwegbreiten Kolonnenweg. Nach wenigen Kilometern treffen wir Hans, der ein Stück mit uns läuft und uns die markanten Stellen des Mauerwegs zeigt. Besonders malerisch ist die Kirschbaumallee, in der 800 Kirschbäume ihre Blütenpracht gerade entfalten. Nach 13 Kilometern denkt Hans für einen kurzen Moment laut darüber nach, ein Eiscafe aufzusuchen – und schon sitzen wir drin und schlemmen ein wenig.
Danach erklärt uns Hans, wie wir zurück auf den Mauerweg kommen und verabschiedet sich von uns. Es hat großen Spaß gemacht, mit einem so humorvollen und angenehmen Gesprächspartner einen Teil des Weges zurückzulegen. Es geht weiter am Teltowkanal entlang. An dieser Stelle gibt es an beiden Seiten des Weges Wohnbebauung. Wir durchqueren einen Wald und überqueren die Autobahn am ehemaligen Grenzkontrollpunkt Dreilinden. Dann erreichen wir Babelsberg. Am Griebnitzsee machen wir eine ausgedehnte Rast und sichten erst einmal unsere kleineren und größeren Blessuren. Martins Füße sind zart wie die Füße eines Neugeborenen, meine Füße sind durch die porösen Laufschuhe schwarz wie die Nacht, aber ohne sichtbare Wunden, Eddi hat sich ein paar Blasen unterschiedlicher Größe gelaufen. Mir geht durch den Kopf, dass es sehr schade wäre, wenn sie den Mauerwalk wegen dieser Blessuren abbrechen müsste.

Nachdem alles verklebt und verarztet ist, geht es munter weiter. Wir besichtigen das etwas heruntergekommene Schloß Babelsberg von außen und erklimmen einen Hügel, um eine recht nichtssagende Sternwarte zu umrunden. Die Sternwarte, die Martin uns eigentlich zeigen wollte, ist in Potsdam, wie wir anschließend erfahren. Unsere Wegweiserin gibt uns mit auf den Weg, dass das aber sehr weit weg sei und man das unmöglich zu Fuß erreichen könne. Wir befolgen ihren Ratschlag und gehen vorbei an der Glienecker Brücke und der Pfaueninsel nach Wannsee. Der letzte Anstieg beseitigt die letzten Illusionen, dass diese Etappe weniger anstrengend werden könne als die erste. Nach 43,1 Kilometern, davon die letzten 2 Kilometer an einer grässlich lauten Hauptstraße, erreichen wir den Bahnhof Wannsee.

05.05.2007
Am dritten Tag ist besonders pünktliches Treffen angesagt. Die Fähre von Wannsee nach Kladow fährt nämlich nur einmal pro Stunde. So beginnt der Tag mit einem relaxten Sonnenbad an Deck der Fähre. Nach Kladow verläuft der Weg durch den Wald vorbei an einem See nach Groß Glienecke. Die Häuser am Ufer sind beeindruckend groß und in faszinierend unterschiedlichen Baustilen. Durch die Rieselfelder gibt es zwei unterschiedliche Streckenführungen – den direkten Weg an der Hauptstraße entlang und den Zickzack-Kurs querfeldein. Angesichts der Tatsache, dass wir uns heute über 46 Kilometer vorgenommen haben, entscheiden wir uns für die direkte aber unattraktive Route. Wir erreichen Staaken und Martin macht uns den Umweg über die Gartenstadt schmackhaft. Dort gibt es malerische hervorragend restaurierte Altbauten. Zum Dank und mangels anderer qualifizierter Kandidaten ernennen wir ihn spontan zum Kulturbeauftragten. So viel Kultur macht hungrig und wir schließen nach kurzer Zeit Freundschaft mit einer Bäckereifachverkäuferin, die uns, nachdem wir ihr von unserer Walking-Tour berichtet haben, auf die reduzierten Kuchenstückchen nochmals 50 % Rabatt gibt.


Frisch gestärkt geht es auf schattigen Waldwegen vorbei an Eiskeller Richtung Nieder Neuendorf. Dort besichtigen wir den renovierten und mit einer Dauerausstellung bestückten Wachturm. Der Weg führt weiter am Nieder Neuendorfer See vorbei.

Am anderen Ufer kann man wunderschöne Häuser und Boote sehen. Wir erreichen Stolpe und sind froh, als wir am Wegesrand einen Discounter entdecken, in dem wir unsere Vorräte wieder auffüllen können. Zu diesem Zeitpunkt nähern wir uns bereits der dritten Marathon-Marke in drei Tagen und sind alle relativ platt. So kommen wir nach der Pause nur allmählich wieder in Gang. In Frohnau müssen wir noch einmal kurz einen Hügel hinter uns bringen und nach einem kleinen Zickzack-Kurs links und rechts der Bahntrasse erreichen wir die Invalidensiedlung. Wenn ich uns Drei nach absolvierten 46 Kilometern so walken sehe, gehen mir spontan diverse Wortspiele durch den Kopf… Dabei genieße ich es, die Siedlung endlich mal bei Tageslicht betrachten zu dürfen.Nach 48,3 Kilometern erreichen wir den Bahnhof Hohen Neuendorf. In diesem Moment sind wir wahrscheinlich alle gleichermaßen froh, dass die letzte Etappe nur gut 30 Kilometer lang sein wird.

06.05.2007

Der Tag der letzten Etappe ist angebrochen. Ich freue mich darüber, dass wir den bisherigen Mauerweg so gut bewältigt haben und dabei eine Menge Spaß hatten und bin zugleich traurig, dass ich mit dieser tollen Truppe nur noch einen weiteren Tag Mauerweg vor mir habe.Beschwingt gehen wir los und nach dem ersten unerwarteten Ortsausgangsschild stellen wir uns die Frage: „Hat vielleicht mal jemand auf die Karte geguckt?“ Nein, natürlich nicht. Da müssen wir halt ein bisschen improvisieren. Gehen wir hier ein bisschen rechts und dort ein bisschen links – dann passt das schon… Hierdurch bleibt uns der mutmaßlich atemberaubende Blick auf den Turm „Deutsche Waldjugend“ verwehrt. Nach einem langen schattigen Waldstück besichtigen wir in Glienecke das „Buddhistische Haus“. Dort können wir einer Meditation beiwohnen. Während Martin noch locker einen Schneidersitz auf einem Kissen am Boden hinbekommt, können Eddi und ich uns nur noch auf eine Bank fallen lassen. Während der Veranstaltung merke ich, wie schwierig es doch ist, mit einem 3-Kilo-Rucksack auf dem Rücken und einer Blase unterm Vorderfuß zu meditieren und seine innere Mitte zu finden. Mit frischen Kräften durchqueren wir das Naturschutzgebiet Tegeler Fließ und erreichen die Stelle, an der man zum ersten Mal den Fernsehturm sieht.
In diesem Moment wird mir klar, dass wir unser Ziel erreichen werden. Eddi erklärt mir, welche Bedeutung ihre Signatur „Operae pretium est“ hat (Es ist die Mühe wert.) und ich finde, dass es keinen besseren Moment hierfür gegeben hätte. Nach den Hochhäusern im Märkischen Viertel nähern wir uns unaufhaltsam dem Innenstadtbereich. Wir gehen entlang der Eisenbahntrasse und stärken uns nach 20 Kilometern auf einem Bauernhof mit Kaffee und Kuchen.


Auf den letzten Kilometern lassen wir uns sehr viel Zeit – für den Mauerpark, die Kapelle der Versöhnung und die Gedenkstätte Berliner Mauer. Dort steigen wir die Treppe hinauf und besichtigen das Stück der Mauer, das noch originalgetreu erhalten ist. Mir geht durch den Kopf, dass unsere kleine Walking-Gruppe ohne den Fall der Mauer so nie zustande gekommen wäre. Auch aus diesem Grund finde ich es gut, dass dieses "Bauwerk" nicht mehr da ist. Wir können den Reichstag sehen, ziehen aber noch ein paar Schleifen, bis wir letztendlich da sind. Helga erwartet uns mit drei Rosen.
Zu Viert gehen wir durchs Brandenburger Tor. Es gibt Momente im Leben, die dürften ewig dauern…

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Einfach nur wahnsinn zu lesen, was man in vier Tagen mit seinen Füßen schaffen kann. Ich bin echt platt und hoffe, irgendwann auch nur annähernd so trainiert zu sein.

Meinen Respekt!